Future Organization

Skalierte Agilität - von agiler Führung zur echten Selbstorganisation (wir müssen mal über Geld reden)

Artikel

22.09.2023

Komplexe Softwaresysteme für große Unternehmen agil zu entwickeln, stellt uns vor Herausforderungen auf vielen Ebenen: kulturell, organisatorisch, finanziell, infrastrukturell oder architektonisch. In unserer Blogserie betrachten wir verschiedene Probleme der skalierten Agilität aus ganzheitlicher Unternehmenssicht und versuchen, praktische Optimierungsvorschläge zu geben.

AI & Data Driven Company Transformation Strategy

Business-Agilität, also die Fähigkeit eines Unternehmens, flexibel und schnell auf Marktanforderungen reagieren und dabei auch die verfügbaren Fähigkeiten optimal nutzen zu können, kann sich vollständig nur im Zusammenspiel mit Unternehmertum entfalten. Unternehmertum wiederum lässt sich nicht allein durch agile Methoden und Prozesse erreichen, sondern braucht auch den Stimulus und die Freiheit finanzieller Entscheidungshoheit. Ein vielversprechender Weg dahin sind weitreichende Selbstorganisation und Shared Leadership.

Wie können nun aber Selbstorganisation, Shared Leadership und Unternehmertum in bestehende Strukturen und Prozesse skalierter Agilität bei großen Unternehmen und Konzernen integriert werden?

Selbstorganisation und Unternehmertum

Mit weitreichender Selbstorganisation und Shared Leadership meinen wir mehr als die Hoheit crossfunktionaler Teams darüber, wie sie die ihnen zugewiesene Arbeit organisieren – wie in der Regel in skaliert-agilen Frameworks angenommen. Vielmehr geht es etwa auch um die Gründung einer Einheit, ihre Zweckbestimmung, ihre Auflösung und eben auch ihre Finanzhoheit und Budgetverantwortung. Alle diese Dinge werden nicht von oben vorgegeben, sondern durch das Team selbst in gemeinsamer Führerschaft und Verantwortung definiert und weiterentwickelt.

Die Bedingung ist: Das Team handelt im Sinne des Unternehmens und die Zahlen stimmen. Und genau hier kommt Unternehmertum ins Spiel. Im Kern haben wir es mit dem Deal „Freiheit gegen unternehmerisches Committment“ zu tun. Das Unternehmen gewährt einen Kredit im Vertrauen darauf, dass ein Team bzw. eine Einheit ihr Versprechen auf eine positive Geschäftsentwicklung innerhalb eines vereinbarten Zeitraums einlösen kann.

Agile Realität

Schauen wir genauer dorthin, wo (sehr) große agile Transformationen durchgeführt werden, stellen wir häufig fest, dass trotz Orientierung an skalierten Frameworks, optimierter „Flows“, gut gemeinter Leadership-Konzepte und spannender, innovativer Produkte irgendetwas fehlt.

„Wir bauen eine innovative Partnerplattform“.

„Arbeitet ihr agil?“

„Ja. Wir entwickeln in crossfunktionalen Teams und haben jetzt unser 3. PI-Meeting (Planning Interval) hinter uns.“

„Wie läuft die Finanzierung?“

„Wir haben ein Budget bekommen.“

„Warum?“

„Die Geschäftsleitung will unbedingt in diesen Markt.“

Keine klar formulierten und operativ messbaren Ziele, kein MVP (Minimum Viable Product), mit dessen Hilfe Stakeholder ihre Investition überprüfen könnten. Nichts von all dem, was Business-Agilität im Kern ausmacht und was auf Grund seiner Ähnlichkeit zur Idee eines Startups auch als Lean Startup Cycle (siehe Abbildung unten) bezeichnet wird (zum Beispiel in SAFe: https://scaledagileframework.com/epic/). Mit anderen Worten: Der für wirkliche Business-Agilität charakteristische unternehmerische Geist fehlt hier.

Unternehmertum braucht dynamische Strukturen

Wenn sich eine große Idee zu einem konkreten Innovationsvorhaben bzw. Epic verdichtet, ein Business Case vorliegt, Geld für einen MVP bereitsteht und die weitere Finanzierung vom Erfolg eines Piloten abhängt, so entspricht das dem Prozess eines Start-ups bzw. einer selbstorganisierten, unternehmerisch handelnden Unternehmenseinheit bei ihrer Gründung oder der Verfolgung eines neuen strategischen Vorhabens. Das Pendant im Skaliert-Agilen: Der „Gründer“ bzw. die „Gründerin“ oder auch das „Gründer-Team“ überzeugt Investoren, nämlich die Geschäftsleitung oder das höhere Management von einer Idee und deren Umsetzung im Rahmen eines Epics.

Auch das Staffing folgt nun diesem Zyklus und setzt auf den bedarfsgerechten, sukzessiven Aufbau agiler Ressourcen. Anfangs reichen oft kleine agile Teams zum Verproben einer Idee und ihrer Umsetzbarkeit. Später können weitere Teams oder gar ARTs (Agile Release Trains) oder Tribes mitsamt aller notwendigen Rollen wie z. B. Business Owner, Product Manager und System Architect hinzukommen. Dabei können agile Teams neu zusammengestellt werden oder aus bestehenden ARTs bzw. Tribes übernommen werden.

Innovation muss übrigens nicht immer disruptiv sein. Auch bei „alltäglichen“ Innovationsvorhaben greifen die obigen Ideen.

Schauen wir uns ein Beispiel an: Makler wollen sich das Retail-Geschäft erschließen und stellen fest, dass die Prozesse nicht ausreichend digitalisiert sind. Es fehlt das wirkliche digitale Enablement der Maklerhäuser. Dies würde eine Investition von 15 bis 20 Millionen Euro erfordern. Der MVP liegt bei ca. 2 Millionen Euro, soll die Markthypothese verifizieren, hat klare OKRs. Der MVP im obigen Fall kann beispielsweise mit nur einem Team sehr leichtgewichtig realisiert werden. Erst nach erfolgreichem Pilotabschluss wird skaliert, es werden weitere Teams und Rollen hinzugenommen.

Transfer in die skalierte Agilität

Wie können dynamische Strukturen und Prozesse mit Unternehmertum und weitreichender Selbstorganisation in skaliert-agile Frameworks wie SAFe integriert werden?

Die Umsetzung des Lean-Startup-Zyklus durch Business und Supporting Cluster (Quelle: metafinanz / eigene Abbildung).

Wir schlagen dazu die Gruppierung aller zur Umsetzung einer strategischen Initiative notwendigen Strukturen, Prozesse und Rollen in Dynamic Business Cluster vor (siehe Abbildung oben). Diese können je nach Bedarf wachsen, aber auch wieder aufgelöst werden, sollte sich eine Nutzenhypothese nicht bewahrheiten oder auch dann, wenn eine Lösung eine hohe Produktreife erreicht hat und in einen Regelbetrieb überführt werden soll.

Für einen Dynamic Business Cluster ist ein klares Ownership erforderlich. Das Thema muss getrieben, weiterentwickelt und gegenüber Investoren und weiteren Stakeholdern vertreten werden. Wir schlagen dafür die Rolle „Cluster Representative“ (CR) vor. In SAFe könnte man dafür auch die Aufgaben eines Epic Owners erweitern. Wie alle genannten Rollen handelt es sich dabei insgesamt und ein Shared-Leadership-Modell.

Neben den Dynamic Business Clustern, die im Sinne effizienter Team-Topologien hauptsächlich aus „Stream-Aligned“ Teams bzw. ARTs oder Tribes bestehen (siehe hierzu auch unseren Artikel: Skalierte Agilität – wie Teams effizient orchestriert werden (Teil I) zu effizienten Team-Strukturen), brauchen wir ggf. noch Supporting Cluster. Diese können über Platform Teams gemeinsame (technische) Services (z. B. Libraries bzw. APIs) anbieten (siehe dazu auch unseren Blog-Artikel über Team-Topologien und Vertikalisierung: Skalierte Agilität – wie Teams effizient orchestriert werden (Teil II)) und ihren Kunden, den Business Clustern zur Verfügung stellen. Je nach Bedarf können Supporting Cluster als Cost Center oder ebenfalls als Profit Center aufgesetzt werden.

Fazit

Wesentliche Vorteile von Agilität wie Reaktionsfähigkeit, Innovationskraft und auch Mitarbeiterzufriedenheit gehen bei der Skalierung in großen Unternehmen häufig verloren, weil der unternehmerische Macher-Geist nicht in der Organisation verankert werden konnte. Dieser Spirit braucht mehr als „nur“ Empowerment und „Agile Leadership“, nämlich unternehmerische Entscheidungsautonomie und wirklich anpassungsfähige Strukturen, die dem Business Value folgen. Beides fällt großen Unternehmen heute noch sehr schwer.

Wir haben das Potenzial aufgezeigt, das echte Selbstorganisation in Kombination mit Shared Leadership entfalten kann, und wie untrennbar Selbstorganisation dabei mit Unternehmertum und einer hochgradig dynamischen Ablauforganisation zusammenhängt.

Um dieses erfolgreiche Modell – gezielt und nach Bedarf – in skaliert-agile Strukturen großer Unternehmen integrieren zu können, schlagen wir die Erweiterung der agilen Vorgehensweise um selbstorganisierte Dynamic Business und Supporting Cluster vor. Diese richten sich am Prozess des Lean-Start-up-Cycle aus und können dabei dynamisch mit dem jeweiligen Bedarf wachsen oder im Falle nicht erfüllter Nutzenhypothesen wieder schrumpfen oder aufgelöst werden.

Entscheidend für Unternehmen ist eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf das hoch dynamische Marktumfeld. Ermöglicht wird das durch die Etablierung eines wertgesteuerten Portfolios, unterstützt durch eine vom Grunddesign dynamisch angelegte agile Ablauforganisation.
 

Diese Fokussierung und dieser unternehmerische Mindset sind das Herzstück einer wirklichen Agilisierung einer Organisation und damit echter Business-Agilität.

Natürlich bleiben weiterhin breite Bereiche (z. B. Produkte, Teams) der agilen Ablauforganisation in einer mittelfristigen zeitlichen Perspektive stabil. Gleichzeitig braucht es einen konstanten Fokus auf Marktveränderungen und eine daraus abgeleitete konsequente Anpassung der agilen Ablauforganisation.

Co-Autor: Stefan Hanslmaier (Allianz – LinkedIn)

 

Die ausführliche Version dieses Artikels mit weiteren Gedanken zu Shared Leadership, Selbstorganisation und Unternehmertum und deren Praxis bei metafinanz kann HIER abgerufen werden.

 

Hier finden Sie unsere anderen Artikel aus der Serie über skalierte Agilität:

Skalierte Agilität – wie Teams effizient orchestriert werden

Skalierte Agilität – Transformation und Innovation mit OKRs steuern

Skalierte Agilität – Datenkompetenz im Unternehmen etablieren

Quelle Titelbild: AdobeStock/alesmunt

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