Skalierte Agilität - Datenkompetenz im Unternehmen etablieren
Komplexe Softwaresysteme für große Unternehmen agil zu entwickeln, stellt uns vor Herausforderungen auf vielen Ebenen: kulturell, organisatorisch, finanziell, infrastrukturell oder architektonisch. In unserer Blogserie betrachten wir verschiedene Probleme der skalierten Agilität aus ganzheitlicher Unternehmenssicht und versuchen, praktische Verbesserungsvorschläge zu geben.
Daten und ihre intelligente Nutzung sind schon seit jeher die Grundlage des Entscheidungs- und Wissensmanagements. Mit der zunehmenden Digitalisierung ist Datenkompetenz auch für moderne, agile Unternehmen längst zu einer Frage von Wettbewerbsvorteil und Überleben geworden. Man könnte meinen, dass sich Agilität und Datenkompetenz wechselseitig bedingen und fördern. Dem ist in der Praxis aber nicht immer so. Mit anderen Worten, da ist noch Luft nach oben. Wir gehen der Sache nach.
Daten, Fakten, Menschen
Daten und ihre intelligente Nutzung sind keine Erfindungen der Neuzeit. Nicht zuletzt mit der zunehmenden Digitalisierung und der niederschwelligen Verfügbarkeit von KI- bzw. Big-Data-Technologien ist Datenkompetenz (Data Literacy) aber für jeden von uns so wichtig geworden wie lesen und schreiben. Und für Unternehmen ist sie eine der entscheidenden Fragen von Wettbewerbsfähigkeit und Überleben.
Wenn das so einfach wäre! Schon 2009 sagte Erik Brynjolfsson, Ökonom und Direktor des Massachusetts Institute of Technology Center for Digital Business, gegenüber der New York Times: “Wir geraten rapide in eine Welt, in der alles überwacht und gemessen werden kann, aber das große Problem wird die Fähigkeit der Menschen sein, diese Daten zu nutzen, zu analysieren und ihnen Sinn zu verleihen.“
Fälschung und Fehlinterpretation
Ähnlich wie bei optischen Täuschungen lassen wir uns auch im Reich der Daten immer wieder gerne aufs Glatteis führen. Wir erkennen Fake News nicht – künstlich erzeugte Fotos und Videos oder gar bewusst oder unbewusst voreingenommen trainierte KI-Systeme überfordern uns erst recht. Wahlen werden manipuliert, und bevor wir die ruchlosen Machenschaften entlarvt haben, ist die falsche Person auch schon an der Macht. Software-Programme wie ChatGPT generieren wissenschaftliche Arbeiten und Blogartikel, ohne diese allerdings als „generiert“ kenntlich zu machen und ohne Angabe von Quellen.
Zum Glück ist die Qualität auf den zweiten Blick und mit etwas Übung (noch) viel zu schlecht, sonst wäre womöglich auch dieser Artikel durch eine Maschine generiert.
Eine ganz andere Art der Dateninkompetenz beschreibt Hans Rosling 2018 in seinem beeindruckenden Buch “Factfulness”. Diese könnte man vielleicht mit soziologisch-medialer Voreingenommenheit umschreiben. Rosling belegt mit zahlreichen Beispielen, wie wir auf Grund unserer ureigenen „Instinkte“ Statistiken ignorieren oder falsch interpretieren und damit in zentralen Fragen der Weltpolitik wie Armut, Bildung, Bevölkerungswachstum sowie vielen anderen immer wieder gnadenlos daneben liegen.
Wertekompetenz und Kreativität
Was sagt uns das? Wir können Big Data und KI zur Datenanalyse, für Entscheidungsvorlagen, Vorhersagen oder auch zur Generation von Texten und Bildern einsetzen; am Ende aber zählt die Wertekompetenz und Kreativität des Menschen. Und was bedeutet das für Unternehmen? Wie können nun insbesondere agile Unternehmen Datenkompetenz mit all ihren Facetten nutzen sowie in ihre Kultur und ihre Prozesse integrieren? Welche Herausforderungen gibt es aus der Sicht von Leadership, der Organisation und der fachlich-technischen Kompetenz?
Datenkompetenz kompakt
Bevor wir uns der Datenkompetenz im agilen Unternehmen widmen, wollen wir ihr noch ein paar Sätze unserer Definition widmen. Datenkompetenz stellt eine Verbindung her zwischen Daten, die erhoben werden sollen, und dem Problem, das gelöst werden soll. Am Ende geht es darum, aus Daten diejenigen Informationen zu gewinnen, die für Entscheidungen und Handlungen relevant sind. Datenkompetenz umfasst dabei sowohl technische Fähigkeiten wie die Verwendung von Datenanalyse-Tools als auch die Kompetenz, Daten in einem größeren Kontext unter ethischen und anderen Gesichtspunkten kritisch zu bewerten.
Dabei ist es im Kern unerheblich, ob intelligente Algorithmen und Werkzeuge zur automatisierten Verarbeitung großer (unstrukturierter) Datenmengen im Spiel sind oder nicht. Eine KI auf Daten loszulassen und zu hoffen, dass daraus strukturiertes Wissen entsteht, ist schlicht illusorisch. Datenverarbeitung muss geplant werden, der Suchraum eingeschränkt, die richtigen Kenngrößen definiert, die richtigen Fragen formuliert, ein passendes Modell gefunden oder gar neu entwickelt werden.
Schon hier kommen bereits Aspekte der Ethik, Nachhaltigkeit und Compliance sowie Fragen der Qualität von Daten und Quellen ins Spiel. Später müssen Daten im Kontext überprüft, eingeordnet und interpretiert werden. Zu guter Letzt steht die kompetente Anwendung: eine Entscheidung, eine Klassifizierung, eine Handlungsempfehlung oder gar eine automatische, maschinengenerierte Aktion. Schließlich wird der Anwendungsfall erweitert, andere Aspekte und weitere Daten sollen einfließen: Das Spiel beginnt von Neuem.
Wir haben daher unsere Definition von Data Literacy an das Kreislaufmodell des AISNSW (Association of Independent Schools in New South Wales, Australien) angelehnt (siehe Abbildung; auf die Bedeutung der Farbgebung kommen wir später noch zurück). Datenkompetenz (Data Literacy) verstehen wir als die Fähigkeit, faktenbasierte Entscheidungen auf Basis von Daten für ein Unternehmen treffen zu können. Neben methodisch-technischem Wissen setzt dies eine sorgfältige Vorbereitung sowie den kritischen und kreativen Umgang mit Daten in ihrem Kontext voraus. Mit Kompetenz geht auch die Verantwortung einher, für den gesamten Datenkreislauf Anforderungen an Ethik, Nachhaltigkeit, Qualität und Regulatorik zu formulieren. Die Data-Literacy-Charter des Stifterverbands formuliert dazu folgende Fragen: Was will / kann / darf / soll ich mit Daten machen?
Datenkompetent und agil – der perfekte Match
Grundsätzlich gilt: Agilität und Datenkompetenz besitzen ein hohes Maß an wechselseitiger Affinität. Die agilen Werte Transparenz, Kooperation und Messbarkeit („messen und wachsen“) stellen hohe Ansprüche an Datenqualität und Bewertungskompetenz. Das agile Framework SAFe® unterscheidet drei Kategorien von Kennzahlen: Flow zur Messung der Effizienz, Competency als Maß der organisatorischen Reife und Outcome zur Bewertung strategischer Ziele und des tatsächlich gelieferten Nutzens (siehe Abbildung). Die von uns im vorigen Artikel beschrieben OKRs (Objectives and Key Results) gehören zur dritten Kategorie. Wir haben eine vierte Kategorie für die Standard-Finanz-KPIs hinzugefügt: Financials.
Mit dem Aufkommen von Big Data und KI sind die Anforderungen an Datenkompetenz, aber auch die Chancen für Unternehmen dramatisch gestiegen. Ihre Bedeutung für skaliert-agile Produktentwicklung können wir in drei Anwendungsfälle klassifizieren:
- Prozesse automatisieren: Datenbasierte und KI-gestützte Anwendungen können mit komplexen Szenarien und vielen Parametern umgehen und für erweiterte Automatisierung bis hin zu komplexen Entscheidungssystemen, intelligenten Assistenzlösungen sowie autonomen Steuerungen verwendet werden.Dies ermöglicht beispielsweise ein besseres Verständnis von Kundenbedürfnissen, eine weitgehend automatisierte Bewertung von Schadensmeldungen, die Durchführung von Kundendialogen mit intelligenten Chatbots, die Erstellung maßgeschneiderter Service-Angebote an Kunden, die Erkennung von Betrugsversuchen in der Finanzbranche sowie die Beförderung von Personen und Gütern durch autonome Vehikel. Die Liste intelligenter Anwendungen ist endlos und wird unsere Lebensweise weiterhin dramatisch verändern.
- Strategische Entscheidungen unterstützen: Sind strategische Ziele messbar formuliert, lassen sich subjektive, verzögerte, manuelle Entscheidungen zu datengetriebenen und AI-unterstützen Entscheidungen weiterentwickeln. Dabei werden sowohl die Datenqualität verbessert (mehr Messpunkte) als auch die Entscheidungsgeschwindigkeit erhöht (Aktualität, Verfügbarkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit). So kann beispielsweise die Kundenzufriedenheit statt manuell über Feedbackbögen oder die Zustimmung zu politischen Kandidaten über eine automatisierte Auswertung der Gesichtsmimik ermittelt werden. Selbst die komplexe Bewertung eines Parfumduftes soll sich auf diese Weise ermitteln lassen. Aber auch die Formulierung von Kenngrößen selbst könnte eines nicht zu fernen Tages durch KI gelöst werden. Erste Versuche zur automatisierten Definition von OKRs finden sich auf der Webseite eines OKR-Generators.
- Geschäftsmodelle evaluieren: Geschäftsmodelle lassen sich durch Big Data und KI auf vielfältige Weise ausbauen, optimieren oder absichern. Kundenbedürfnisse und Chancen sowie Risiken durch Marktveränderungen können genauer und früher erkannt werden. Digitale Zwillinge können in komplexen Multi-Szenario-Simulationen wertvolle Aussagen über ihre Originale in der physischen Welt liefern. Autonome Transportsysteme oder medizinische Mikroroboter in unseren Blutbahnen eröffnen gänzlich neue Geschäftsfelder.
Datenkompetenz im Unternehmen verankern
Wie wir gesehen haben, sind die Anforderungen an Datenkompetenz, Big Data und KI extrem vielschichtig und betreffen alle Unternehmensbereiche. Und es ist auch klar: Entweder, ein Unternehmen baut sich diese Kompetenz auf, oder es wird nicht überlebensfähig sein. Hierbei wird es auf den richtigen Mix ankommen zwischen Datenexpertise und technologischer Kompetenz, aber auch zwischen Spezialistenwissen und generellem Mindset. Um Datenkompetenz im Unternehmen nachhaltig, also auch in der Unternehmenskultur, verankern zu können, bedarf es Maßnahmen auf vier Ebenen:
- Technische Infrastruktur: Sowohl unternehmensweite Cloud-Infrastrukturen als auch domänenspezifische, z.B. Portfolio-weite Data Lakes mit qualitativ hochwertigen Daten sind die Grundvoraussetzung für daten- und KI-getriebene Software.
- Fachliche und technische Kompetenz: Wir schlagen die Verwendung der bestehenden Rollen „Data Scientist“ und „Data Engineer“ vor, um den fachlich-konzeptionell-business-orientierten (rot eingefärbte Aktivitäten im Datenkompetenz-Zyklus oben) auf der einen und den architektonisch-umsetzungstechnisch-operativen Kompetenzschwerpunkten (weiße Aktivitäten) auf der anderen Seite eine Heimat zu geben.Zusätzlich bedarf es der Kompetenz vieler weiterer bestehender agiler Rollen, um Daten, Modell, KI-Algorithmen und Tools in neue und bestehende Wertströme, in die Design-Methoden, in die DevOps-Pipeline und in die IT-Infrastruktur einzubinden.
- Organisation: Aus organisatorischer Sicht haben Data Scientists einen übergreifenden Wirkungskreis und sorgen dafür, dass Daten und Modelle für die gesamte Firma bzw. ein Portfolio definiert und nutzbar sind, während Data Engineers ihren Fokus eher auf die Befähigung der Umsetzungsteams legen (siehe Abbildung „Organisationsmodell“). Wir schlagen zudem vor, dass beide Rollen auch spezifische Trainings für die komplementären Rollen auf ihren Ebenen durchführen.Ein zweiter wesentlicher organisatorischer Aspekt von Datenkompetenz im agilen Unternehmen ist die Bereitstellung und Pflege eines für alle einsehbaren Dashboards der oben genannten agilen Messgrößen von Business-Agilität. Statt klassischem Reporting schafft ein solches Dashboard weitgehende Transparenz und Empowerment für alle in Echtzeit.
- Leadership: Menschen in Führungsrollen sollten Chancen und Risiken von Big Data über den eigenen Kontext hinaus gut verstanden haben, müssen Geschäftsmodelle richtig bewerten, strategische Ziele definieren und messbar machen, Budgetforderungen für datengetriebene Anwendungen oder KI-Modelle aus dem Produktmanagement richtig einschätzen und gegen geschäftliche Opportunitäten abwägen können. Sie müssen die Relevanz für Investitionen in Infrastruktur, Personal und Training erkennen und die allgemeine Awareness von Datenkompetenz durch Vorleben und proaktive Maßnahmen fördern. Gerade im agilen Kontext besonders wichtig: Sie müssen die Bereitschaft mitbringen, Rollen mit Datenkompetenz in die Entscheidungs- und Implementierungsprozesse aktiv einzubinden.
Fazit
Datenkompetenz ist bereits heute ein kritischer Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen geworden. Die breite Verfügbarkeit von Big Data und KI beschleunigt diese Entwicklung dramatisch. Der kompetente Umgang mit Daten unterstützt Entscheidungsqualität, Effizienz und neue Geschäftsmodelle, hilft aber auch bei der Gefahrenabwehr.
Aufgrund der Kompatibilität von Business-Agilität und Datenkompetenz können agil aufgestellte Unternehmen den kompetenten Umgang mit Daten sehr gut in ihre Prozesse, Strukturen und technischen Infrastrukturen integrieren. Voraussetzung ist eine daten-affine Leadership-Kultur, die Datenkompetenz auf allen Unternehmensebenen aktiv fördert.
Weitere Schlüsselfunktionen übernehmen Data Scientists und Data Engineers, die einerseits als Datenexperten das Datenkompetenz-Training übernehmen, andererseits die bestehenden agilen Rollen auf verschiedenen Ebenen beim operativen Umgang mit daten- beziehungsweise KI-basierenden Anwendungen unterstützen.
Durch die beschrieben Maßnahmenpakete in den Bereichen „technische Infrastruktur“, „fachliche und technische Kompetenz“, „Organisation“ und „Leadership“ kann ein agiles Unternehmen Datenkompetenz effizient und nachhaltig als Kernkompetenz in der eigenen DNA verankern.
Co-Autor: Stefan Hanslmaier (Allianz – LinkedIn)
Quelle Titelbild: AdobeStock/Worawut