Agiles BCM – Zusammenarbeit statt Analysen
Agil ist hip, Business Continuity auch. Schade, dass man die beiden Trendthemen nur sehr selten zusammen antrifft. Es wird Zeit, das zu ändern. In diesem Artikel geht es um die Frage, warum Zusammenarbeit besser ist als zeitraubende, klassische Analysen.
In meinem jüngsten Artikel griff ich die Frage auf, warum funktionsfähige BCM-Lösungen (BCM = Business Continuity Management) wichtiger als eine umfassende Dokumentation sind. Dazu orientierte ich mich wieder an den vier agilen Kernwerten, die ich kurzerhand auf mein Thema BCM übertragen habe:
- Individuen und Interaktionen vor Prozessen und Werkzeugen
- Funktionsfähige BCM-Lösungen vor umfassender Dokumentation
- Zusammenarbeit vor zeitraubenden Analysen (dieser Artikel)
- Flexibilität vor strikter Planverfolgung
Agiler Wert 3: Zusammenarbeit vor zeitraubenden Analysen
Kaum eine Disziplin hat so viele Schnittstellen und braucht ein ähnlich großes Maß an Kooperation zwischen verschiedenen Teams und Abteilungen wie BCM. Aber auch die Forderung nach Analysen ist im Business-Continuity-Management sehr stark und bildet oft die Basis für alle weitere Entwicklungen. Im agilen Manifest findet sich der Wert „Zusammenarbeit mit dem Kund:innen vor Vertragsverhandlungen“. Dieser Punkt ist nicht ohne weiteres auf BCM übertragbar und muss daher stärker umformuliert werden: „Zusammenarbeit vor zeitraubenden Analysen“ ist meine Erkenntnis aus vielen Projekten.
BCM: Analysen und KPIs sind gefragt
Wenn Kund:innen mit einer Projektanfrage zu Business-Continuity-Management auf uns zukommen, wird immer die Frage nach Analysen und Kennzahlen gestellt. Das ist nicht verwunderlich, denn in der DIN EN ISO 22301:2019 sind die Business-Impact-Analyse und das Risk Assessment zentrale Anforderungen, auf deren Grundlage alles Weitere entwickelt wird. Dabei ist nicht vorgegeben, wie die Analyse und das Assessment erfasst werden müssen. Hierzu haben sich jedoch Best Practices entwickelt, die in der Regel auf großen Excel-Tabellen und Fragebögen aufbauen.
Erhebungsbögen kennen nur die halbe Geschichte
Erhebungsbögen erleichtern zwar die Arbeit und die Analyse, ermitteln aber auch nur das, was vorab definiert wurde. Deswegen treffen sie oft nicht den eigentlichen Kern. So habe ich erlebt, dass Prozesse und Assets in Analysen nicht richtig eingeordnet wurden, weil das notwendige Wissen im Fragebogen nicht im notwendigen Maße abgefragt werden konnte. Beispielsweise ist der Zugriff auf das Schichtplanungssystem im Call-Center bei jedem Schichtwechsel sehr wichtig – warum werden Schichtpläne sonst täglich und im Voraus zur Sicherheit ausgedruckt? Für den tatsächlichen Prozess der Call-Annahme ist das System aber nicht kritisch und könnte so leicht übersehen werden.
Workshops und Shadowing für BCM
Eine sinnvollere Herangehensweise für die Analyse ist es, direkt und eng mit den betroffenen Mitarbeiter:innen zusammenarbeiten, um wirklich zu verstehen, wie ein Prozess genau funktioniert, welche Stellen wichtig sind und wo die Ziele liegen. Dafür kann man unterhaltsame Workshops und auch gerne „Shadowing“ anwenden. Hierbei begleitet der Business-Continuity-Manager die betroffenen Mitarbeiter:innen in ihrem Arbeitsalltag, beobachtet den Arbeitsablauf, stellt Fragen und hört auch das, was sonst nicht gesagt wird. Im Grunde kann man sich die Vorgehensweise wie einen Einarbeitungstag vorstellen. Das klingt zwar sehr zeitintensiv, aber spart im Nachgang viel Zeit, weil sich der Business-Continuity-Manager ein Netzwerk aufbauen konnte und gleichzeitig das Wissen ermittelt hat, um die Kritikalität von Prozessen besser einschätzen zu können und auf Augenhöhe mit den Expert:innen zu sprechen.
Szenarien und Exit-Games durchspielen
Als Beraterin habe ich diese Möglichkeit oft nicht. Zeit ist ja auch gleichzeitig Geld. Deswegen greife ich gerne auf Methoden zurück, um in kurzer Zeit das Wissen auf Papier zu bringen. Eine davon ist die Szenario-Übung, in der man mit kleinen Gruppen von Mitarbeiter:innen im Schnelldurchlauf mehrere Szenarien „durchspielt“. Oder warum nicht das Thema wie ein Exit-Game aufziehen und Spaß bei der Arbeit haben? Gamification etwa kann BCM einen großen Schub verleihen, die Grundlagen des Ansatzes habe ich in einem anderen BCM-Artikel beschrieben. Schließlich wird die „offizielle“ Dokumentation nachgezogen, um die Standards zu erfüllen. So wird die immer wiederkehrende Analysephase für alle Beteiligten eine spannende und bereichernde Aufgabe.
Analysen + frühe Awareness = Basis für BCM
Das alles klingt sehr ungewöhnlich – bisweilen waghalsig – und stößt daher bei einigen BCM-Expert:innen auf Kritik. Jedoch hat BCM das Ziel, die Prozesse und das Unternehmen robuster zu machen, also auf Notfälle und Krisen vorzubereiten. Dafür benötigen Mitarbeiter:innen aber auch ein Verständnis für die Prozesse und mögliche Notfallszenarien. Die DIN EN ISO 22301:2019 fordert nicht nur, dass Analysen durchgeführt werden, sondern dass Mitarbeiter:innen genügend Informationen über das Business-Continuity-Programm des Unternehmens haben und auch ausreichend geschult wurden. Mit dieser Herangehensweise kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Die Begeisterung, die durch eine fragebogenfreie Analyse geweckt wird, ist unbezahlbar und bringt in vielerlei Richtung einen großen Mehrwert – nicht nur für das Business-Continuity-Programm, sondern für das ganze Unternehmen.
Um diesen agilen Wert auf BCM anzuwenden, sollte direkt mit den Prozess- und Ressourcenverantwortlichen sowie den Entscheidungsträgern zusammengearbeitet werden, um Prozesse, Ziele und mögliche Lösungen zu diskutieren und zu verstehen, anstatt gemeinsam starre Fragebögen abzuarbeiten. Zugegeben: Agil an BCM heranzugehen und die Compliance einzuhalten, ist eine echte Herausforderung. Jedoch geben die gängigen Standards genügend Freiraum, dies auch umzusetzen. Und ich würde mich immer für eine frühe Einbindung der Mitarbeiter:innen entscheiden. Dies ist in den allermeisten Fällen sinnvoller als eine lange Analysephase, bei der man die Menschen im Nachgang abholen muss.
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